Tagesablauf

 

„Mein lieber Freund,

lange ist es nun her, daß wir uns sprachen. Doch habe ich nicht vergessen, was ich Dir beim Abschied gelobt habe. Getreulich sammle ich meine Erfahrungen und halte sie schriftlich fest, auf daß sie nicht verlorengehen. Viel Erstaunliches habe ich auf dieser Pilgerreise gesehen und die Wunder der Götter erfahren dürfen wie niemals zuvor.
Ich könnte damit gewiß Dutzende von Seiten füllen. Tja, wo anfangen? Nun, ich will versuchen, Dir die besonders beeindruckenden Erfahrungen zu schildern, denn jene dürften es wahrlich wert sein, von Dir gelesen und in Erinnerung behalten zu werden.
[…]
Die Disziplin der Ordensmitglieder, die sich ganz und gar Boron und Seinem Sendboten Golgari verschrieben haben, muß als äußerst erstaunlich bezeichnet werden, was womöglich noch unterstützt wird von der Tatsache, daß die meisten Handgriffe und Tätigkeiten in vollkommenem Schweigen ausgeführt werden. So hat es den Anschein, als sei alles, was die Golgariten täten, Teil von etwas viel Größerem. Ich bin schon einigen Mönchen und Ordensmitgliedern begegnet, die ihr Leben einem anderen der Zwölfgötter geweiht haben. Wo sonst jedoch brennender Glaube in den Augen leuchtet und mannigfaltige Worte voll Lob und Dank an die jeweilige Gottheit gefunden werden, so scheint es mir, sind die Golgariten erfüllt von stummer Hingabe an ihren Herrn. Sie besitzen eine ruhige Bestimmtheit, die einem bisweilen sehr unheimlich wird.
Doch ich schweife ab.
Der ehrwürdige Abt, ein rhetorisch äußerst gewandter Mensch im Übrigen, überließ mir auf meine Bitte hin in seiner großzügigen Art einige Schriften zum Studium – was soll ich sagen? Dergleichen ist mir noch nie passiert. Ich hatte schon ein paar Bücher flüchtig gelesen, als ich in einem Folianten ein zusammengefaltetes Schriftstück fand, das lose zwischen die Seiten geschoben war. Es enthielt folgende Zeilen:

„Der reguläre Tag eines Ordensmitglieds folge dem Symbol des gebrochenen Rades, welches ist das Zeichen Seiner Würde und Bedeutung für die Sterblichen. Und wie die Nabe des Rades unbeweglich ist und ewiglich gleichbleibendes Zentrum des Rades, so sei Boron Mittelpunkt des Tages, auf Ihn sei jegliches Tun und Handeln der Ordensangehörigen ausgerichtet, es diene Ihm und sei Ihm stets zu Gefallen.
Alldieweil aber Seine Alveraniare, symbolisiert durch die Speichen des gebrochenen Rades, zusammengeführt im Zentrum des Rades, dem Herrn Boron, die Träger Seiner Werke und Worte sind, so sei der Tag unterteilt in fünf borongefällige Zeiten, gewidmet Seinen Dienern, als da sind Uthar, Ewiger Wächter der Pforte mit dem Unwiderruflichen Pfeil, Golgari, Führer der Seelen über das Nirgendmeer, Rethon, Unfehlbare Seelenwaage, Marbo, Barmherzige Fürbitterin der Seelen, und Bishdariel, Zwiegestaltiger Sendbote der Träume.“

Ich sprach mit einigen Mentoren und begann, den Tagesablauf der Knappen genauer zu studieren. Und es wurde mir dadurch sehr deutlich vor Augen geführt, daß dieser Weisung, die ich gefunden hatte – Hesinde weiß woher sie stammen mag, denn in der Lex Boronia ist sie mit keiner Silbe erwähnt! – wohl von den Ordensmitgliedern Beachtung geschenkt wird:

Demgemäß beginnt der Tagesablauf eines Knappen im Orden des Heiligen Golgari etwa zwei Stunden vor Tagesanbruch. Der Knappe erhebt sich vom Schlafe, wendet sich gen Efferd, um dem Herrn Boron in den Schatten für Sein Göttliches Geschenk des Schlafes und der Erholung zu danken, und grüßt dann, gen Rahja gewandt, den Herrn Praios, der sich strahlend über Dere erhebt, um Ihm für den Beginn eines neuen Tages zu danken, und die übrigen der Zwölfe, um Ihnen ebenfalls für Ihre Göttlichen Werke an den Menschen zu danken.
Der erste Tagesabschnitt ist Marbo gewidmet, der Fürsprecherin der Seelen. Wie Sie sich der Seelen der Sterblichen annimmt und beim Herrn Boron um Gnade für sie bittet, so soll der Knappe in den ersten Stunden des Tages nach dem Morgengebet und einer knappen Morgenmahlzeit die Gnade des Herrn Boron ersuchen, namentlich das Vergessen. Er soll schweigend im Heiligtum des Herrn beten, Seine Nähe suchen und um Vergebung bitten für alle Verfehlungen, die er sich im Leben zuschulden kommen lassen hat, außerdem das Gnädige Vergessen ersuchen, auf daß ihn die Schatten seiner Vergangenheit nicht plagen und ablenken mögen von der Hingabe an den Herrn.
Der zweite Zeitabschnitt des Tages ist Uthar gewidmet, dem Ewigen Wächter. Wie Uthar die Pforte zu Borons Hallen schützt und stets gewappnet ist, die Feinde des Herrn niederzustrecken mit Seinem Pfeil, so soll der Knappe sich am Vormittag üben im Kampfe, auf daß sein Körper erstarke und seine Hand sicher werde gegen Seine Feinde wie der Pfeil Uthars unfehlbar. Zu diesem Zwecke soll er Ihm zu Gefallen die Heilige Waffe des Ordens führen, den Rabenschnabel. Des weiteren soll der Knappe von seinem Mentor in der Reitkunst unterwiesen werden, damit er eines Tages den berittenen Kampf beherrscht. Auch soll er zu dieser Zeit seine Waffen und seine Rüstung pflegen, denn ebenso wie das Können gehören sie zum Kampf.
Nach dem Mittagsmahl und dem Mittagsgebet, in welchem der Toten gedacht wird, die nicht mehr unter den Sterblichen weilen und keine Speisen mehr zu sich nehmen, beginnt der Tagesabschnitt, der Bishdariel gewidmet ist. Der Knappe soll sich zur Ruhe begeben und seinen Geist frei machen, auf daß ihm der Herr durch den Zwiegestaltigen Seine Botschaft sende, eingefaßt in Traumbilder, die der Knappe zu ergründen und zu deuten suchen soll, um den Willen Borons zu verstehen und auszuführen.
Der vierte Tagesabschnitt aber gehört dem Sendboten des Herrn, dem Geflügelten Diener Golgari, dessen Flügelrauschen den sterblichen Dienern Botschaft von Boron bringt, dem Herrn des Todes. So soll der Knappe durch Lesen der Schriften lernen und Lehre durch seinen Mentor empfangen. Dieser soll er aufmerksam folgen und in ihr das Wesen des Herrn erkennen.
Im fünften Tagesabschnitt aber, gewidmet der Seelenwaage Rethon, soll der Knappe die Ruhe suchen, nachdem er an Abendmahl und Abendgebet teilgenommen hat, welche in der Stunde nach Einbruch der Dunkelheit stattfinden. Er soll inneres Gleichgewicht anstreben, um sich ganz vorzubereiten für das Gütige Geschenk des Herrn. Vor dem Zubettgehen soll er ein letztes Gebet zum Herrn sprechen und sich dann zum borongefälligen Schlafe begeben.
Über all diesem soll er aber nicht die alltäglichen Arbeiten vergessen, die er mit ebenso großer Ernsthaftigkeit und Gewissenhaftigkeit auszuführen hat wie alle anderen Aufgaben auch. Dies sind alle Pflichten im Dienste des Orden, die ihm auferlegt werden von den Ordensoberen wie die Wache am Tor und die Hilfe in Küche, Bibliothek, Garten, Tempel und Friedhof des Klosters. Ebenso soll er Sorge tragen um seine Ordenstracht und seine Kammer, er soll sich um das Wohlergehen der ordenseigenen Pferde kümmern und überall dort helfen, wo es nötig ist.

Erstaunlich, nicht? Allerdings, so erfuhr ich, stellt jene strenge Einteilung des Tages gewissermaßen nur eine Richtlinie dar, so daß auch kein Ordensmitglied fest daran gebunden ist. Dies wäre in der beschriebenen Form auch gar nicht allen Golgariten möglich, so teilte mir einer der Mentoren mit, da es in den unsicheren Zeiten, die wir nun ja seit einigen Jahren erleben müssen, immer öfter vorkommt, daß Knappen ihrer inneren Stimme folgend die Ordensniederlassungen velassen und aufbrechen, um ihre Berufung dort zu finden, wo auch immer es gilt, den Feinden Borons die Stirn zu bieten. So ziehen sie zumeist allein umher und vollbringen Taten im Namen ihres Herrn.
Nun, ich bin mir gewiß, daß es noch weitaus mehr zu lernen gäbe über diesen geheimnisumwitterten Orden, und fast reute es mich deshalb, als ich meinen Stab wieder nahm und die Mauern des Klosters gen Westen hinter mir ließ. Auf der anderen Seite freute ich mich außerordentlich auf heitere menschliche Gesellschaft, die ich mit jedem Tag bei dem verschlossenen Golgaritenvolk mehr vermißte, und so zog ich weiter..."

- Auszug aus einem Brief des „ewigen Pilgers“ Allys ter Dremaint an einen Vertrauten

 

Text: Sonja Beyer